Donnerstag, 30. Januar 2014

Warum man Vollkommenheit begehren muss

Erstes Hauptstück.

Von der Begierde einer christlichen Seele nach Vollkommenheit.

1. Wenn du wahrhaft fromm und vollkommen werden willst, geliebter Christ, so musst du vor allem ein aufrichtiges Verlagen nach Vollkommenheit haben.



Wie ein Jäger, welcher einen Vogel im Fluge schießen will, immer weiter, als nach jenem Punkte zielen muss, wo er den Vogel sieht: eben so muss man, um zur Vollkommenheit zu gelangen, stets nach dem höchsten Grade der Heiligkeit, welcher nur immer zu erreichen ist, mit seinen Begierden zielen. 
David ruft aus: "Wer wird mir Flügel, wie einer Taube geben, dass ich hinfliegen und ruhen könne?" (Psalm 34,7) Die heiligen Begierden sind ihm jene glücklichen Flügel, womit sich heilige Seelen von der Erde erheben, und auf den Berg der Vollkommenheit erschwingen, wo sie jenen Frieden, jene Ruhe finden, die sie in der Welt vergebens suchen. 

Wie bewirkt jedoch die heilige Begierde, dass sich die Seele zu Gott erhebt? Dieses erklärt der heilige Laurentius, Patriarch von Venedig: „Einerseits gibt die fromme Begierde Kräfte, andererseits macht sie die Mühe und Arbeit geringer, den steilen Berg zu besteigen." 
Wer keine Begierde nach Vollkommenheit hat und an der Erreichung seines Zieles verzagt, wird sich auch nie bemühen, sie zu erlangen. Wer einen hohen Berg sieht, und nicht auf den Gipfel zu klettern verlangt, wo er weiß, dass ein Schatz zu finden sei, wird nicht einen Schritt tun, um hinauf zu steigen: sondern wird gleichgültig und müßig unten stehen bleiben. Also, wer keine heilige Begierde hat, den Schatz der Vollkommenheit zu finden, weil er die hierzu nötige Mühe für allzu groß hält, der wird in seiner Lauheit immer nachlässig bleiben, ohne auf dem Wege Gottes beherzte Schritte zu wagen.

2. Ja, wer auf dem Wege des Herrn nicht vorwärts zu gehen verlangt, wird, wie alle Lehrmeister des christlichen Tugendlebens sagen, und wie es die Erfahrung bestätigt, zurückgehen, und sich großer Gefahr aussetzen, ewig verloren zu gehen. 


Dasselbe sagt der weise Salomon: Der Weg der Gerechtigen ist wie ein glänzendes Licht, geht fort und wächst bis zum vollen Tag. (Sprichw. 4,18) Der Weg der Sünde hingegen wird von Finsternissen immer mehr verdunkelt, bis die Armseligen dahin kommen, wo sie nicht mehr wissen, ob, wann, und wohin sie fallen. Der heilige Augustinus sagt: „Auf dem Wege des Geistes nicht vorwärts gehen heißt zurück schreiten." 
Dieses erklärt auch schon der heilige Gregorius durch das Gleichnis eines Schiffers; der Heilige sagt: „Wer sich auf einem Flusse in einem Schifflein befindet und dasselbe gegen den Strom zu treiben sich nicht bemüht, sondern still halten wollte, ohne weder vorärts noch rückwärts zu fahren, würde notwendig rückwärts schwimmen, weil ihn der Strom selbst fortreißen würde." 

Der Mensch ist nach der Sünde Adams natürlicher Weise von seiner Geburt an zum Bösen geneigt. Der Sinn und die Gedanken des menschlichen Herzen sind von Jugend auf zum Bösen geneigt. (Gen. 8.21) Wenn nicht vorwärts trachtet und sich Gewalt antut, besser und frömmer zu werden, als er schon ist, den wird der Strom der menschlichen Begierden rückwärts mit fortreißen. 
Der heilige Bernardus fragt: Seele, du willst im Geiste nicht zunehmen? so willst du also abnehmen. — Du antwortest: Keineswegs! — Was willst du denn sonst? fragt der heilige Abt von Clairvaux weiter. — Du sagst: Ich will in dem Stande bleiben, in dem ich bin; ich will weder besser noch schlimmer werden. Du bist also etwas, antwortet der heilige Bernardus, was unmöglich sein kann ; denn auf dem Wege Gottes muss man entweder vorwärts gehen und in den Tugenden zunehmen, oder rückwärts gehen, und sich in den Abgrund der Laster stürzen.